Urteil Nº 4A_417/2017 Bundesgericht, 14-03-2018

Date14 mars 2018
Judgement Number4A_417/2017
Subject MatterImmaterialgüter-, Wettbewerbs- und Kartellrecht* Kartellrecht, negative Feststellungsklage
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
4A_417/2017
Urteil vom 14. März 2018
I. zivilrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Kiss, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Klett, Hohl, Niquille, May Canellas,
Gerichtsschreiber Lüthi.
Verfahrensbeteiligte
1. A.________ AG,
2. B.________ SA,
3. C.________ Limited,
alle drei vertreten durch Rechtsanwälte Dr. Franz Hoffet und Prof. Dr. Felix Dasser,
Beschwerdeführerinnen,
gegen
D.________ Limited,
vertreten durch Rechtsanwälte
Dr. Simon Holzer und Renato Bucher,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Kartellrecht, negative Feststellungsklage,
Beschwerde gegen den Entscheid des Handelsgerichts des Kantons Bern vom 26. Juni 2017 (HG 16 43).
Sachverhalt:
A.
A.a. Die A.________ AG mit Sitz in S.________ [Schweiz] und Ver-waltungssitz (Headquarter) in T.________ [Schweiz](Klägerin 1, Beschwerdeführerin 1) ist die Dachholding des Konzerns X.________ und bildet zusammen mit den von ihr kontrollierten Tochtergesellschaften die Gruppe X.________.
Die B.________ SA mit Sitz in U.________ [Schweiz] (Klägerin 2, Beschwerdeführerin 2) ist eine hundertprozentige Tochter der Klägerin 1. Sie stellt Uhrwerke in der Schweiz her (insbesondere einen Grossteil der Uhrwerke für die Schweizer X.________ Gruppe-Marken), alle Uhren der Marken "Y.________" und "Z.________" sowie Ersatzteile für Uhren und Uhrwerke. Die Ersatzteile vertreibt sie sowohl an interne Kunden als auch an Drittkunden.
Die C.________ Limited mit Sitz in V.________, Grossbritannien (Klägerin 3, Beschwerdeführerin 3) ist eine hundertprozentige englische Tochtergesellschaft der Klägerin 1. Sie ist im Vereinigten Königreich und in Irland ausschliesslich für den Vertrieb der Produkte der Gruppe X.________ zuständig und verkauft diese an autorisierte Händler und Serviceanbieter sowie in ihren eigenen Verkaufsstellen.
Die D.________ Limited mit Sitz in W.________, Grossbritannien (Beklagte, Beschwerdegegnerin) bietet als Grosshändlerin Uhrener satzteile an. Bis am 31. Dezember 2015 vertrieb sie auch Ersatzteile für Uhren der Gruppe X.________.
A.b. Im Zuge der stufenweisen Einführung eines selektiven Vertriebssystems für Ersatzteile beschloss die Gruppe X.________, zur lückenlosen Implementierung des Systems die Zusammenarbeit mit Grosshändlern zu beenden. Den Grosshändlern wurde (mit einem Vorlauf von über einem Jahr) bis zur Beendigung der Belieferung mit Ersatzteilen eine Übergangsfrist bis am 31. Dezember 2015 gewährt.
A.c. Mit Schreiben vom 16. März 2016 forderte die Beklagte die Klägerinnen auf, bis am 6. April 2016 die Wiederaufnahme der Belieferung zu bestätigen, ansonsten ohne weitere Ankündigung Klage eingereicht würde. Dem Schreiben legte sie eine Eingabe " (Draft) Order" an den High Court of Justice in London bei. Auf Ersuchen der Klägerin 3 erstreckte die Beklagte die von ihr angesetzte Frist bis am 20. April 2016.
A.d. Am 19. April 2016 reichten die Klägerinnen die vorliegendenegative Feststellungklage beim Handelsgericht des Kantons Bern ein.
A.e. Mit Eingabe vom 29. April 2016 reichte die Beklagte ihrerseits beim High Court of Justice in London gegen die Klägerinnen Klage ein wegen Verletzung europäischen Kartellrechts.
B.
Mit Klage vom 19. April 2016 beim Handelsgericht des Kantons Bern betragten die Klägerinnen:
"1. Es sei festzustellen, dass die Klägerinnen gegenüber der Beklagten keine Pflicht zur Belieferung mit Ersatzteilen für Produkte der Klägerinnen oder von mit diesen verbundenen Gesellschaften trifft.
2. Es sei festzustellen, dass die Klägerinnen wegen Beendigung der Belieferung der Beklagten mit Ersatzteilen für Produkte der Klägerinnen oder von mit diesen verbundenen Gesellschaften per 31. Dezember 2015 der Beklagten nichts schulden, insbesondere keinen Schadenersatz.
3. (...) "
Das Handelsgericht beschränkte das Verfahren mit Verfügung vom 12. Dezember 2016 auf die Fragen der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts und des Feststellungsinteresses. Es verneinte gestützt auf die lex fori ein genügendes Feststellungsinteresse und trat deshalb mit Urteil vom 26. Juni 2017 auf die Klage nicht ein. Die Frage der internationalen und örtlichen Zuständigkeit liess es formell offen, setzte sich aber einlässlich damit auseinander und hielt abschliessend fest, dass Vieles für deren Bejahung spricht, sollte das Bundesgericht das Rechtsschutzinteresse der Klägerinnen anders als das Handelsgericht bejahen.
C.
Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragen die Beschwerdeführerinnen dem Bundesgericht, der Entscheid des Handelsgerichts des Kantons Bern vom 26. Juni 2017 sei aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid an das Handelsgericht zurückzuweisen. Sie machen geltend, dass im Anwendungsbereich des Lugano-Übereinkommens kein besonderes Feststellungsinteresse erforderlich sei. Sollte das Bundesgericht dem nicht folgen, bestimme sich das Feststellungsinteresse aber nicht nach der lex fori, sondern nach der lex causae; daher sei englisches Recht anwendbar, das kein besonderes Feststellungsinteresse verlange. Eventualiter, für den Fall einer Beurteilung nach der lex fori, sind sie der Auffassung, dass ein besonderes Feststellungsinteresse seit Inkrafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO) nicht mehr erforderlich sei. Selbst wenn aber vom Erfordernis eines besonderen Feststellungsinteresses auszugehen wäre, sei ein solches im vorliegenden internationalen Verhältnis gegeben. Die Sache sei daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie formell ihre Zuständigkeit bejahe und auf die Klage eintrete, allenfalls weitere Abklärungen zur lex causae treffe.
Die Beschwerdegegnerin trägt auf Abweisung der Beschwerde an, soweit darauf einzutreten ist. Die Vorinstanz hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Parteien haben eine Replik bzw. Duplik eingereicht.
Am 3. Dezember 2017 entschied die Vorinstanz über die Höhe der Parteientschädigung, welche die Beschwerdeführerinnen der Beschwerdegegnerin gemäss Dispositiv- Ziffer 3 des angefochtenen Entscheids zu bezahlen haben. Ein Exemplar dieses Urteils wurde dem Bundesgericht kommentarlos zugestellt.
Erwägungen:
1.
Die Beschwerde in Zivilsachen ist ein reformatorisches Rechtsmittel (Art. 107 Abs. 2 BGG). Grundsätzlich muss die rechtsuchende Partei einen Antrag in der Sache stellen, das heisst angeben, welche Punkte des Entscheids sie anficht und welche Änderungen sie beantragt. Ein blosser Rückweisungsantrag reicht ausnahmsweise aus, wenn das Bundesgericht im Falle der Gutheissung in der Sache naturgemäss nicht selbst entscheiden könnte (so ausdrücklich BGE 134 III 379 E. 1.3 S. 383). Dieser Ausnahmefall ist hier offensichtlich gegeben. Ist das Bundesgericht mit den Beschwerdeführerinnen der Auffassung, ein Eintreten auf die Klage hätte nicht wegen fehlendem Rechtsschutzinteresse abgelehnt werden dürfen, müsste die Vorinstanz im Rahmen der vorgenommenen Verfahrensbeschränkung formell entscheiden, ob auf die Klage im Hinblick auf die internationale und örtliche Zuständigkeit eingetreten werden kann.
2.
In BGE 136 III 523 erkannte das Bundesgericht, dass weder Art. 21 der damals noch einschlägigen Fassung des LugÜ von 1988 (SR 0.275.12; nachfolgend: LugÜ 1988; in der revidierten Fassung geregelt in Art. 27 LugÜ) noch die EuGVVO (Verordnung [EG] Nr. 44/2001 des Rats vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen im Zivil- und Handelsachen) regeln, ob für eine negative Feststellungsklage ein besonderes Rechtsschutzinteresse zu verlangen ist. Sie überliessen diese Frage den nationalen Rechten. Das nationale Verfahrensrecht dürfe ein besonderes Rechtsschutzinteresse für eine (negative) Feststellungsklage verlangen. Die Vorinstanz habe Art. 21 LugÜ 1988 nicht verletzt, indem sie das blosse Interesse des Schuldners, einen Gerichtsstand zu fixieren ("forum running"), als nicht hinreichendes Rechtsschutzinteresse erachtet habe. Die Beschwerde zielt auf eine Änderung dieser Rechtsprechung.
Nach konstanter Rechtsprechung muss sich eine Praxisänderung auf ernsthafte, sachliche Gründe stützen können, die - vor allem im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit - umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erkannte Rechtsanwendung für zutreffend erachtet worden ist. Eine Praxisänderung lässt sich grundsätzlich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht, andernfalls ist die bisherige Praxis beizubehalten (BGE 127 II 289 E. 3a S. 292 f.; 132 III 770 E. 4 S. 777; 135 III 66 E. 10 S. 79; Urteil 5A_324/2016 vom 1. Dezember 2016 E. 2).
3.
3.1. Die Beschwerdeführerinnen machen geltend, dass das nationale Recht entgegen BGE 136 III 523 im Anwendungsbereich des LugÜ kein besonderes Rechtsschutzinteresse für eine negative Feststellungsklage verlangen dürfe. Denn das LugÜ gehe vom Prinzip der Gleichwertigkeit der Leistungsklage und der spiegelbildlichen negativen Feststellungsklage aus. Inhaltliche Voraussetzungen an die Zulässigkeit der negativen Feststellungsklage würden diese Gleichwertigkeit unzulässigerweise einschränken. Sie würden den (angeblich) Geschädigten unzulässig privilegieren, denn er habe die Wahl, ob er am allgemeinen oder an einem besonderen Gerichtsstand klagen wolle, während der (angebliche) Schädiger sich nicht auf Art. 5 Ziff. 3 LugÜ berufen könnte. Das LugÜ sei aber bezüglich Gläubiger und Schuldner grundsätzlich neutral. Auch aus dem von der Vorinstanz zitierten Urteil des EuGH vom 25. Oktober 2012 C-133/11 Folien Fischer AG und Fofitec AG lasse sich nicht ableiten, dass das LugÜ die Frage des Rechtsschutzinteresses nicht regle.
3.2. Im Urteil Folien Fischer hielt der EuGH fest, dass im Stadium der Prüfung der...

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