Arrêt nº 6B 345/2011 de Cour de Droit Pénal, 17 novembre 2011

ConférencierPublié
Date de Résolution17 novembre 2011
SourceCour de Droit Pénal

Chapeau

138 IV 13

  1. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh. (Beschwerde in Strafsachen)

    6B_345/2011 vom 17. November 2011

    Faits à partir de page 14

    BGE 138 IV 13 S. 14

    1. X. (geb. 1964) wanderte am Sonntag, den 11. Oktober 2009, bei schönem Wetter zwischen 15.40 und 16.00 Uhr nackt im Naherholungsgebiet Nieschberg bei Herisau/AR. Dabei ging er unter anderem an einer von einer Familie mit Kleinkindern besetzten Feuerstelle und an einem christlichen Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige vorbei. Eine Passantin stellte ihn zur Rede und erstattete Strafanzeige.

      B.

      B.a Das Verhöramt Appenzell A.Rh. verurteilte X. mit Strafverfügung vom 23. November 2009 wegen unanständigen Benehmens im Sinne von Art. 19 des Gesetzes über das kantonale Strafrecht des Kantons Appenzell A.Rh. zu einer Busse von 100 Franken respektive zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von einem Tag bei schuldhafter Nichtbezahlung der Busse.

      B.b Die Kantonsgerichtspräsidentin von Appenzell A.Rh. sprach X. mit Urteil vom 27. Mai 2010 frei.

      B.c Das Obergericht von Appenzell A.Rh. verurteilte X. mit Entscheid vom 17. Januar 2011 in Gutheissung der Appellation der Staatsanwaltschaft wegen unanständigen Benehmens im Sinne von Art. 19 al. 2 des Gesetzes über das kantonale Strafrecht des Kantons Appenzell A.Rh. zu einer Busse von 100 Franken.

    2. X. führt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und er sei vom Vorwurf des unanständigen Benehmens freizusprechen. Zudem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. BGE 138 IV 13 S. 15

    3. Das Obergericht des Kantons Appenzell A.Rh. hat auf Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh. hat sich nicht vernehmen lassen.

    4. Das Bundesgericht hat sein Urteil in einer öffentlichen Sitzung gefällt.

      Considérants

      Aus den Erwägungen:

  2. Das Bundesgericht prüft die Auslegung und Anwendung kantonalen Rechts, einschliesslich kantonalen Strafrechts, nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür. Es prüft hingegen frei, ob die von der Vorinstanz angewandte kantonale Strafnorm mit Bundesrecht vereinbar ist, ob mithin der Kanton bundesrechtlich, gestützt auf Art. 335 Abs. 1 StGB, zum Erlass der Norm zuständig ist und ob diese dem Bestimmtheitsgebot genügt. Das Bundesgericht prüft ebenfalls mit freier Kognition, ob die Bestrafung des Beschwerdeführers wegen Nacktwanderns in Anwendung kantonalen Rechts das in der Beschwerde angerufene Grundrecht auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) verletzt.

  3. Die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts und des Strafprozessrechts ist Sache des Bundes (Art. 123 Abs. 1 BV). Den Kantonen bleibt die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten, als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist (Art. 335 Abs. 1 StGB).

    3.1 Das inkriminierte Nacktwandern erfüllt unstreitig keinen Tatbestand des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB). Namentlich sind auch die Tatbestände des Exhibitionismus (Art. 194 StGB) und der sexuellen Belästigungen (Art. 198 StGB) nicht erfüllt. Denn der Beschwerdeführer wanderte, wovon mit der Vorinstanz auszugehen ist, nicht aus sexuellen Beweggründen mit entblösstem Geschlechtsteil, was aber eine Voraussetzung für die Anwendung von Art. 194 StGB wäre, und das Nacktwandern als solches ist keine sexuelle Handlung im Sinne von Art. 198 StGB. Das Nacktwandern ist ferner offensichtlich keine pornografische Vorführung gemäss Art. 197 StGB.

    3.2 Der Fünfte Titel des Schweizerischen Strafgesetzbuches enthielt vor der Revision des Sexualstrafrechts durch das Bundesgesetz vom 21. Juni 1991, in Kraft seit 1. Oktober 1992, unter dem 3. Abschnitt betreffend "Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit" den Tatbestand der "öffentlichen unzüchtigen Handlung" (aArt. 203 StGB). Danach wurde mit Gefängnis oder mit Busse bestraft, wer öffentlich eine BGE 138 IV 13 S. 16

    unzüchtige Handlung beging. Als "unzüchtig" galt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts, was den geschlechtlichen Anstand verletzt, indem es in nicht leichtzunehmender Weise gegen das Sittlichkeits- und Schamgefühl des normal empfindenden Menschen verstösst, der weder besonders empfindlich noch sittlich verdorben ist (BGE 117 IV 276 E. 3b, BGE 117 IV 457 E. 2b mit Hinweisen).

    aArt. 203 StGB wurde im Rahmen der Revision des Sexualstrafrechts durch das Bundesgesetz vom 21. Juni 1991 aufgehoben. Die Botschaft des Bundesrates hält dazu fest, dass sich beim Tatbestand der "öffentlichen unzüchtigen Handlung" die Grenze der Strafbarkeit nur schwer bestimmen liess, die Strafnorm Anlass zu einer weiten richterlichen Auslegung gab und der Strafrichter von der Pflicht befreit werden solle, in solchen Fällen den Sittenrichter spielen zu müssen. Die Botschaft verweist auf die Doktrin, wonach jedenfalls Handlungen ohne sexuelle Bedeutung entgegen der Rechtsprechung niemals unzüchtig sein könnten und im Übrigen der Massstab der durchschnittlichen sittlichen Anschauung ohnehin verfehlt sei (Botschaft vom 26. Juni 1985 über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes [Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, gegen die Sittlichkeit und gegen die Familie], BBl 1985 II 1009 ff., 1079 f.). An die Stelle des aufgehobenen Tatbestands der "öffentlichen unzüchtigen Handlung" sind die Tatbestände des "Exhibitionismus" und der "sexuellen Belästigungen" getreten, die allerdings im Unterschied zum aufgehobenen Tatbestand keine Öffentlichkeit voraussetzen (Botschaft, a.a.O., 1079 f., 1092 f.).

    3.3

    3.3.1 Soweit das Schweizerische Strafgesetzbuch die Angriffe auf ein Rechtsgut durch ein geschlossenes System von Normen abschliessend regelt, bleibt für kantonales Übertretungsstrafrecht kein Raum (BGE 129 IV 276 E. 2.1; BGE 117 Ia 472 E. 2b; je mit Hinweisen). Art. 187 ff. StGB regeln die Angriffe auf die sexuelle Integrität abschliessend (TRECHSEL/LIEBER, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2008, N. 9 zu Art. 335 StGB; ROLAND WIPRÄCHTIGER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 2. Aufl. 2007, N. 17 zu Art. 335 StGB; siehe auch BGE 81 IV 124).

    3.3.2 Daraus folgt jedoch nicht, dass ein Verhalten in der Öffentlichkeit, welches, wie etwa das nicht sexuell motivierte Entblössen des Intimbereichs im öffentlichen Raum, unter dem Geltungsbereich des früheren Sexualstrafrechts allenfalls gemäss aArt. 203 StGB als BGE 138 IV 13 S. 17

    "öffentliche unzüchtige Handlung" bestraft worden wäre (siehe BGE 89 IV 129 mit Hinweisen), seit der Revision des Sexualstrafrechts und damit der Aufhebung von aArt. 203 StGB von Bundesrechts wegen nicht im kantonalen Übertretungsstrafrecht unter Strafe gestellt werden darf.

    Unter dem Geltungsbereich des früheren Sexualstrafrechts unterschied die Rechtsprechung zwischen dem Polizeigut der öffentlichen Sittlichkeit und dem strafrechtlich geschützten Rechtsgut der Sittlichkeit, die nicht notwendig identisch seien (BGE 106 Ia 267 E. 3a mit Hinweis). Nicht sexuell motivierte Entblössungen in der Öffentlichkeit wurden von der Praxis je nach den Umständen nach kantonalem Übertretungsstrafrecht (Polizeistrafrecht) oder als "öffentliche unzüchtige Handlung" gemäss aArt. 203 StGB bestraft (siehe BGE 89 IV 129; BGE 103 IV 167), je nachdem, ob die Entblössung lediglich Sitte und Anstand oder auch den geschlechtlichen Anstand verletzte. Demgegenüber wurde in der Lehre die Auffassung vertreten, dass Betätigungen ohne sexuelle Bedeutung und somit unter anderem nicht sexuell motivierte Entblössungen nie unzüchtig seien und daher im Falle ihrer Vornahme in der Öffentlichkeit nicht unter den Anwendungsbereich des Tatbestands der "öffentlichen unzüchtigen Handlung" (aArt. 203 StGB) fielen, sondern ausschliesslich eine Angelegenheit des kantonalen Polizeirechts seien (GÜNTER STRATENWERTH...

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