Arrêt nº 9C 334/2010 de IIe Cour de Droit Social, 23 novembre 2010
Date de Résolution | 23 novembre 2010 |
Source | IIe Cour de Droit Social |
veröffentlichter Text
Chapeau
136 V 395
47. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Publisana Krankenversicherung gegen F. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_334/2010 vom 23. November 2010
Faits à partir de page 397
BGE 136 V 395 S. 397
A. Die 1940 geborene F. ist bei der Publisana obligatorisch krankenpflegeversichert. Mitte 2007 wurde bei ihr Morbus Pompe diagnostiziert. Die Publisana erteilte im Oktober 2007 Kostengutsprache für eine sechsmonatige Behandlung mit dem Medikament Myozyme. Diese Behandlung wurde in der Folge bis Mai 2008 durchgeführt. Nachdem das Spital X. am 11. Juni 2008 um Fortführung der Kostengutsprache nachgesucht hatte, lehnte die Publisana mit Verfügung vom 22. Oktober 2008 und Einspracheentscheid vom 18. März 2009 die Kostenübernahme für die Therapie ab.
B. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess mit Entscheid vom 23. Februar 2010 eine von F. erhobene Beschwerde gut und verpflichtete die Publisana, die Kosten der Behandlung vorerst für die Dauer von zwei Jahren zu übernehmen.
C. Die Publisana erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass sie nicht verpflichtet sei, die Kosten für das Arzneimittel Myozyme zu übernehmen.
F. lässt Abweisung der Beschwerde beantragen. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichtet in seiner Vernehmlassung auf einen förmlichen Antrag.
In einer weiteren Eingabe äussert sich F. zur Stellungnahme des BAG.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Considérants
Aus den Erwägungen:
1. (...)
1.6 Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist nur die Fortführung der Therapie über das erste halbe Jahr hinaus für weitere eineinhalb Jahre, nicht aber die bereits durchgeführte und bezahlte Therapie für das erste halbe Jahr.
(...)
3. Unbestritten ist, dass die Beschwerdegegnerin an Morbus Pompe leidet, dass es sich dabei um eine seltene Krankheit (Orphan Disease) handelt, dass das streitige Medikament Myozyme nicht auf der Spezialitätenliste steht und dass es kein alternatives Arzneimittel zur Behandlung der Krankheit gibt.
4.
4.1 Nach den Feststellungen der Vorinstanz ist das Arzneimittel Myozyme durch Swissmedic zugelassen. Die Beschwerdeführerin BGE 136 V 395 S. 398
bestreitet dies nicht grundsätzlich, bringt allerdings vor, diese Zulassung gelte nicht für die hier vorliegende adulte Form des Morbus Pompe.
4.2 Myozyme ist im vereinfachten Verfahren zugelassen als wichtiges Arzneimittel für seltene Krankheiten im Sinne von Art. 14 Abs. 1 lit. f des Bundesgesetzes vom 15. Dezember 2000 über Arzneimittel und Medizinprodukte (Heilmittelgesetz, HMG; SR 812.21) bzw. Art. 4 Abs. 1 lit. a der Verordnung des Schweizerischen Heilmittelinstituts vom 22. Juni 2006 über die vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und die Zulassung von Arzneimitteln im Meldeverfahren (VAZV; SR 812.212.23; sog. Orphan Drug; vgl. SCHMID/UHLMANN, in: Basler Kommentar, Heilmittelgesetz, 2000, N. 13 ff. zu Art. 14 HMG). Gemäss der Homepage von Swissmedic (http://www.swissmedic.ch/zulassungen/00171/00181/00182/index.html; besucht am 23. November 2010) wurde das Präparat MyozymeTM mit dem Wirkstoff Alglucosidase alfa am 22. Mai 2008 für folgende Indikation zugelassen: "MyozymeTM ist für die langfristige Enzymersatztherapie bei Patienten mit gesichertem Morbus Pompe (Mangel an saurer ?-Glucosidase) indiziert. Für die positive Wirkung von MyozymeTM bei Patienten mit Morbus Pompe in später Verlaufsform ist bisher eine klinische Wirksamkeit nicht nachgewiesen (siehe Pharmakodynamik, Klinische Wirksamkeit)." Eine ausdrückliche Beschränkung der Zulassung auf die infantile oder juvenile Form der Krankheit ist in dieser Aussage nicht enthalten. So oder so ist aber die arzneimittelrechtliche Zulassung für die Kassenpflichtigkeit nicht ausschlaggebend (PASCAL LACHENMEIER, Die Anwendung "nicht zugelassener" Arzneimittel in der Krebstherapie nach schweizerischem Recht ["off-label-use"], Jusletter vom 11. Mai 2009, Rz. 56).
5.
5.1 Die gesetzliche Ordnung (Art. 52 Abs. 1 lit. b KVG; Art. 34 und 64 ff. KVV [SR 832.102]; Art. 30 ff. der Verordnung des EDI vom 29. September 1995 über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung [Krankenpflege-Leistungsverordnung, KLV; SR 832.112.31]) schliesst die Übernahme der Kosten von nicht auf der - abschliessenden und verbindlichen - Spezialitätenliste aufgeführten Arzneimitteln durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung grundsätzlich aus (BGE 134 V 83 E. 4.1 S. 85 ff.; 131 V 349 E. 2.2 S. 351 mit Hinweis). Die Kosten für ein in der Spezialitätenliste enthaltenes Medikament werden nur übernommen, wenn BGE 136 V 395 S. 399
das Arzneimittel für von Swissmedic gemäss Art. 9 ff. HMG zugelassene medizinische Indikationen verschrieben wird (BGE 130 V 532 E. 3.2.2 S. 538 und E. 3.4 S. 540). Diese Regelung bezweckt einerseits, dass nur Arzneimittel über die obligatorische Krankenpflegeversicherung abgerechnet werden, welche nach heilmittelrechtlichen Grundsätzen sicher und wirksam sind. Andererseits wird damit im Sinne des Wirtschaftlichkeitsgebots (Art. 32 KVG) eine Kostenbegrenzung erreicht, indem die auf der Spezialitätenliste enthaltenen Arzneimittel höchstens nach den darin festgelegten Preisen verrechnet werden dürfen (Art. 52 Abs. 1 lit. b und Abs. 3 KVG; Art. 67 KVV; Art. 34 ff. KLV; GEBHARD EUGSTER, Bundesgesetz über die Krankenversicherung [KVG], 2010, N. 7 zu Art. 52 KVG; UELI KIESER, Die Zulassung von Arzneimitteln im Gesundheits- und im Sozialversicherungsrecht, AJP 2007 S. 1042 ff., 1049). Diese Preiskontrolle geht über eine reine Missbrauchskontrolle hinaus und bezweckt die Sicherstellung eines angemessenen Preis-/Nutzen-Verhältnisses (BGE 109 V 207 E. 4 S. 212 ff.; BGE 127 V 275 E. 2 S. 277 ff.; BRIGITTE PFIFFNER RAUBER, Das Recht auf Krankheitsbehandlung und Pflege, 2003, S. 162 f.).
5.2 Nach der Rechtsprechung sind ausnahmsweise die Kosten für ein Arzneimittel auch zu übernehmen, wenn es für eine Indikation abgegeben wird, für welche es keine Zulassung besitzt (sog. Off-Label-Use); Voraussetzung ist, dass ein sogenannter Behandlungskomplex vorliegt oder dass für eine Krankheit, die für die versicherte Person tödlich verlaufen oder schwere und chronische gesundheitliche Probleme nach sich ziehen kann, wegen fehlender therapeutischer Alternativen keine andere wirksame Behandlungsmethode verfügbar ist; diesfalls muss das Arzneimittel einen hohen therapeutischen (kurativen oder palliativen) Nutzen haben (BGE 131 V 349 E. 2.3 S. 351; BGE 130 V 532 E. 6.1 S. 544 f.). Ein wichtiger Anwendungsbereich für Ausnahmen von der Listenpflicht sind Medikamente gegen Krankheiten, die so selten sind, dass sich für die Hersteller das Zulassungsverfahren nicht lohnt (sog. Orphan Use bzw. Orphan Diseases; vgl. ARIANE AYER, Prise en charge des médicaments "hors étiquette", SZG 2005 Nr. 7 S. 7 ff.; LACHENMEIER, a.a.O., Rz. 51; FRANK TH. PETERMANN, Rechtliche Betrachtungen zum Off-Label-Use von Pharmazeutika, in: Health Insurance Liability Law [Hill], 2007, Fachartikel Nr. 2, Rz. 14). Für die Zulassung eines Off-Label-Use kann aber nicht jeglicher therapeutische Nutzen genügen, könnte doch sonst in jedem Einzelfall die Beurteilung des BGE 136 V 395 S. 400
Nutzens an die Stelle des gesetzlichen Listensystems treten und dieses unterwandern (RKUV 2003 S. 299, K 63/02 E. 4.2.1; vgl. Urteil 2A.469/2003 vom 6. September 2004 E. 3.3). Da das gesetzliche System auch der Wirtschaftlichkeit dient, muss insbesondere vermieden werden, dass durch eine extensive Praxis der ordentliche Weg der Listenaufnahme durch Einzelfallbeurteilungen ersetzt und dadurch die mit der Spezialitätenliste verbundene Wirtschaftlichkeitskontrolle umgangen wird (SVR 2009 KV Nr. 1 S. 1, 9C_56/2008 E. 2.3; Urteil 9C_305/2008 vom 5. November 2008 E. 1.3; vgl. zu dieser Befürchtung PETER BRAUNHOFER, Arzneimittel im Spannungsfeld zwischen HMG und KVG aus der Sicht des Krankenversicherers, in: Das neue Heilmittelgesetz, Eichenberger/Poledna [Hrsg.], 2004, S. 103 ff., 110 f.; PETERMANN, a.a.O., Rz. 59).
5.3 Anders als bei den befristeten Zulassungen nach Art. 9 Abs. 4 HMG wird für die vereinfachte Zulassung für Orphan Drugs nach Art. 14 Abs. 1 lit. f HMG kein hoher therapeutischer Nutzen verlangt. Der Umstand, dass arzneimittelrechtlich die Orphan-Drug-Zulassung für Myozyme erfolgt ist (E. 4.2), bedeutet daher entgegen der offenbaren Auffassung der Beschwerdegegnerin nicht automatisch, dass der Einsatz dieser Medikamente einen hohen therapeutischen Nutzen im Sinne der dargelegten krankenversicherungsrechtlichen Rechtsprechung darstellt.
6. Umstritten und zu prüfen ist zunächst, ob ein hoher therapeutischer Nutzen im Sinne der dargelegten Rechtslage vorliegt.
6.1 Die Vorinstanz hat erwogen, die Krankheit verlaufe tödlich und es gebe bis anhin neben Myozyme kein alternatives Arzneimittel zur Behandlung der Krankheit. Ein hoher therapeutischer Nutzen sei nicht erst dann anzunehmen, wenn dieser über Jahre hinweg bestehe oder gar zunehme. Durch die Behandlung sei eine Stabilisierung der Befunde eingetreten und eine massgebliche Steigerung der Lebensqualität erreicht worden. Nach Absetzen der Behandlung habe sich der Gesundheitszustand verschlechtert, so dass eine nächtliche Beatmung nötig geworden sei. Zudem habe die Patientin die Behandlung ohne wesentliche Nebenwirkungen vertragen. Gemäss der sog. LOTS-Studie (ANS T. VAN DER PLOEG UND ANDERE, A Randomized Study of Alglucosidase Alfa in Late-Onset Pompe's Disease, New England Journal of Medicine, 15. April 2010, S. 1396 ff.) habe sich unter Myozyme-Behandlung eine signifikante Verbesserung beim 6-Minuten-Gehtest (Steigerung der Gehstrecke um rund 30 Meter) und der pulmonalen Vitalkapazität (Verbesserung der BGE 136 V 395 S. 401
Atmung, Verzicht auf künstliche Beatmung) ergeben. Dies sei als nicht geringer therapeutischer Effekt einzustufen. Unter Gesamtwürdigung der konkreten Umstände wie...
Pour continuer la lecture
SOLLICITEZ VOTRE ESSAI